Franz Kafka verwandelt sich
Die Theater- und die Tanz-AG des NGL bringen Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“ auf die Bühne.

Franz Kafka gehört im Deutschunterricht zu den am meisten gefürchteten Autoren. Generationen von Schülern arbeiteten sich schwitzend, stöhnend, verzweifelnd an seinen Werken ab, die mit dem Ruf behaftet sind, rätselhaft und schwer verständlich zu sein.

Zu allem Unglück erklärte sogar der Deutschlehrer, dass es bei Kafka keine richtige Interpretation, sondern nur unzählige vollkommen unzureichende gebe. Wie soll man auch eine Geschichte deuten, deren Held sich bereits im ersten Satz „zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt“ hat? Weder er selbst, Gregor Samsa, noch der Leser erfahren bis zum Schluss der Erzählung, warum das geschehen ist. Es ist kein Märchen, keine böse Fee hat ihn verhext und keine gute erlöst ihn. Er hat nichts verbrochen, wofür sollte er bestraft werden? Samsa ist Handlungsreisender, Vertreter für Tuchwaren, ein stinknormaler junger Mann, der mit seiner jüngeren Schwester Grete noch bei seinen Eltern wohnt. Und alles, was in der Geschichte nach dem absolut unrealistischen ersten Satz passiert, ist allergewöhnlichster Alltag – bis auf den Umstand, dass dieser gar nicht mehr geht. Minutiös wird beschrieben, wie sich das Leben der Samsas durch ihr neues und erschreckendes tierisches Familienmitglied verändert, bis es schließlich – man weiß nicht recht weshalb – jämmerlich stirbt.
Kafkas Geschichte wird allein aus der Perspektive Gregor Samsas erzählt, wir erfahren seine Gedanken und Gefühle, seine Sicht der Vorgänge, wir erleben seinen Leidensweg bis an die Grenze des Erträglichen mit. Erst als er tot ist, ändert sich diese Sicht und der Erzähler schildert, wie sich die Familie unverhohlen freut, ihn los zu sein, voller Hoffnung in die Zukunft blickend.

Kann man diese Geschichte auf die Bühne bringen, ohne das Wesentliche zu verlieren? Wie zeigt man Samsas Innenleben, das im Text bis in feinste Verästelungen beschrieben wird? Soll sich die Handlung in der uns fremd gewordenen Welt von 1912 abspielen, als Kafka das Buch schrieb? Und vor allem: wie gestaltet man daraus ein Stück, das Schüler gern spielen und gern sehen?

Die Aufführung hat für diese Fragen überzeugende Lösungen gefunden. Kurze, expressive Szenen verdichteten das sich über Monate hinziehende Geschehen zu exemplarischen Momentaufnahmen. So entstand ein Spannungsbogen, der die Zuschauer von Anfang an fesselte. Am Anfang liegt eine von einem Tuch verhüllte Gestalt auf der dunklen Bühne, während der erste Satz der Erzählung auf einer weißen Leinwand im Hintergrund erscheint, von einer mechanisch ratternden Schreibmaschine getippt. Die Gestalt zuckt unter den Klängen einer düsteren Musik. Schemenhafte Figuren erscheinen und drängen sich um sie, beugen sich zu ihr hinab, scheinen auf sie einzuschlagen. Plötzlich Licht. Die Gestalt ist allein, windet sich, bis das Tuch von ihr gleitet. Samsa, wie ein monströses Baby in einem orangefarbenen Ganzkörperanzug steckend, wird von Alexa geweckt und mit den Instruktionen für den Tag versehen. Als Angestellter einer Firma im Online-Handel soll er zunächst seine E-Mails checken. Doch da seine Hände von dem Anzug wie von Fausthandschuhen umschlossen sind, scheitert er schon daran, den Laptop auch nur hochzufahren. Hilflos schiebt er das Gerät vor sich her, krabbelt auf allen Vieren auf dem Boden herum. Die Familie fragt, warum er nicht zur Arbeit geht, und entdeckt das Ungeheuerliche. Der Prokurist der Firma, der höchst ungebeten hereinplatzt, lässt sich nicht mit Beteuerungen, Gregor sei krank, abwimmeln und sieht selbst, was geschehen ist. Anstatt Betroffenheit oder gar Mitgefühl zu zeigen, weist er darauf hin, dass Gregor in der letzten Zeit weniger Umsätze gemacht habe und für die Firma nicht mehr tragbar sei. Damit ist er entlassen, die Familie sorgt sich, wer nun den Unterhalt für sie beschafft.
Bereits in dieser ersten Szene wird deutlich, dass das Geschehen in die Gegenwart verlegt wurde. Kafkas Kritik an einer Gesellschaft, die den Menschen ausschließlich nach seinem Nutzwert bemisst und wahrnimmt, ist heute so aktuell wie vor hundert Jahren. Die Bühnenfassung, die Frau Polo mit den Schülern erstellte, kann Samsa natürlich nicht in seiner biografischen Bedingtheit als komplexen Charakter entwickeln, dafür zeigt sie ganz hervorragend die satirische Schärfe von Kafkas Text. Die Prägnanz der Szenen erinnert beispielsweise an Büchners „Woyzeck“, den man ja als direkten Vorfahren Samsas sehen kann. Schlag auf Schlag wird ein Leben vernichtet, und niemand kümmert das wirklich. Bestenfalls wird guter Wille geheuchelt.
Auffallend war, dass die Rollen der Familienmitglieder mehrfach besetzt waren. Das hat einerseits wohl den praktischen Grund, dass dadurch möglichst viele Schüler der Theater-AG auftreten konnten. Doch es war auch stimmig in dieser Bearbeitung der auf ganz wenige Figuren beschränkten Geschichte, dass es drei und mehr Väter, Mütter und Schwestern gab. Die Mehrfachbesetzung veranschaulicht die Ungewissheit Samsas, wer seine nächsten Verwandten im Grunde sind, wie sie zu ihm stehen. Das feste Gefüge der Familie entpuppt sich als eine Illusion, so wie in Kafkas kleiner Prosa „Die Bäume“:
„Denn wir sind wie Baumstämme im Schnee. Scheinbar liegen sie glatt auf, und mit kleinem Anstoß sollte man sie wegschieben können. Nein, das kann man nicht, denn sie sind fest mit dem Boden verbunden. Aber sieh, sogar das ist nur scheinbar.“
Ein ganz wesentliches Element der Aufführung bildeten die Tanzeinlagen. Was soll in diesem Stück getanzt werden? Vor der Vorstellung fragte ich mich auch, was die Tanz-AG beitragen könnte. Natürlich ist „Die Verwandlung“ auch als Ballett vorstellbar, doch in unserer Aufführung war ja die Handlung schon durch Schauspieler realisiert. Frau Pilz und ihre Schüler erarbeiteten eine Choreographie, die viel mehr als bloße Einlagen, Pausenfüller zwischen den Szenen, lieferte. Das Stück erhielt durch sie eine weitere Bedeutungsebene. Fast immer wurde im Dunkeln getanzt, man konnte oft nur ungefähr erkennen, was geschah. Doch schon in der ersten, oben beschriebenen Szene wurde deutlich, dass die Tänze das, was in Worten nicht gesagt werden kann, zum Ausdruck bringen. Das sichtbare Geschehen entfaltet sich vor dem Hintergrund einer dunklen Bedrohung. Wie klein und schwach ist das Ich gegenüber den Mächten, die es weder begreifen noch beherrschen kann.

Alle Mitwirkenden gaben ihr Bestes. Sie spielten wirklich und brachten die Figuren zum Leben, anstatt nur Dialoge aufzusagen. Emil Heger überzeugte als Gregor Samsa. Seine Darstellung ließ ahnen, wie es einem geht, wenn man dem Unvorstellbaren ausgesetzt ist. Das Paradox, dass die Figur, der die menschliche Gestalt genommen ist, als einzige Menschlichkeit besitzt, wurde geradezu erschreckend deutlich. Auch die Technik funktionierte tadellos und trug wesentlich zum Gelingen der Aufführung bei. Großer und verdienter Applaus.
„Die Verwandlung“ auf der Bühne des NGL scheint mir ein Musterbeispiel für einen sinnvollen Umgang mit klassischer Literatur. Die Aufführung befreite das Werk von all dem Schimmel und den Spinnweben, die es in den langen Jahren langweiligen Deutschunterrichts überzogen haben. Wer hätte gedacht, dass Schüler der Mittelstufe einen Autor, an dem Abiturienten verzweifeln, nicht nur verstehen, sondern auch mit Begeisterung einem großen Publikum präsentieren? Franz Kafka hat sich verwandelt.

von Andreas Pickard

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